orbis digitalis
das pädagogische museum im netz
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Konzeptdebatte

Michael Parmentier

Zum Problem, der Beschriftung
Über Funktion und Inhalt der Objektkommentare im pädagogischen Museum "Orbis digitalis"


Problemexposition


Zu den wenigen Gegenständen, die im Hinblick auf die Funktionsweise der Institution Museum wissenschaftlich etwas ausführlicher untersucht wurden, gehört neben der Sammlungsgeschichte vor allem das Besucherverhalten. Unter der Rubrik "Visitor studies", oder, wie es bei uns heißt, "Besucherforschung" verbirgt sich inzwischen ein sehr solides und ausdifferenziertes Forschungsfeld. Die einschlägigen Studien füllen schon ganze Regalwände und nötigen zur bibliographischen Erfassung1. Ihr Frageinteresse richtet sich vor allem auf die Häufigkeit von Museumsbesuchen und auf die Zusammensetzung des jeweiligen Publikums. Man will wissen, wer das Museum besucht und welche Erwartungen er mitbringt. Etwas verkürzt darf man vielleicht sagen, die Resultate der Besucherforschung sind für die Museumsverantwortlichen das, was die Einschaltquoten für die Programmdirektoren im Fernsehen sind: Meßlatten des Erfolgs oder Misserfolgs. Um diesen Erfolg beim Publikum, der für die Finanzierung eines Museums immer wichtiger wird, zu steigern und die Gefahr des Misserfolges zu minimieren, lassen sich viele Maßnahmen denken. Eine davon ist auf die Optimierung der Objektbeschriftung und –kommentierung gerichtet. Die Texte im Museum sollen für das Laienpublikum verständlicher werden. Warum ausgerechnet die Frage nach der richtigen Textgestaltung in einem Museum, das ja in die Sprache der Dinge einführen und nicht die schulischen Defizite im Textverstehen kompensieren soll, eine so prominente Rolle spielt, mag dahingestellt bleiben. Tatsache ist jedenfalls, dass ein großer Teil der Besucherforschung inzwischen das Leseverhalten des Publikums ausführlich untersucht und auf diese Weise hofft, den Museumsmachern geeignete Hinweise zur Verbesserung der Objektbeschriftung liefern zu können2. Erstaunlicherweise beschränken sich die Bemühungen um bessere, d.h. verständlichere Museums- bzw. Ausstellungstexte fast ausschließlich auf formale Gestaltungsmerkmale wie die Typografie (graphische Gestaltung, Farbe, Schriftform, Schriftgröße, Zeilenabstand), den textuellen Aufbau (Wortmenge, Satzlänge, Abschnittsgröße, Überschriften) Vokabular (Anteil von Vokalen und Konsonanten, von Fremdworten, Alltagswendungen, Wissenschaftsterminologie) und die Verknüpfungsformen (argumentativ, narrativ, parataktisch, hypotaktisch). Die Frage nach dem Inhalt einer Beschriftung wird dagegen kaum gestellt. Was über die bloße Präsentation hinaus von einem Gegenstand im Museum noch schriftlich mitgeteilt werden soll, scheint ganz und gar nicht kontrovers. Man hält sich einfach an die bisherige Kommentierungspraxis. Sie begnügt sich trotz einiger Variation in Abhängigkeit von der Art des Gegenstandes und der wissenschaftlichen Disziplin, in deren Hoheitsbereich er fällt, in der Regel mit zeitlichen und räumlichen Angaben zur Entstehung (Datierung) und Verbreitung (Lokalisierung) des jeweiligen Exponates und schildert in Ausnahmefällen auch noch die eine oder andere Besonderheit des ursprünglichen Verwendungskontextes.

Für die Beschriftung bzw. Kommentierung der Exponate des pädagogischen Museums im Netz "Orbis digitalis" ist diese überlieferte und eingespielte Praxis der Datierung, Lokalisierung und Zweckbeschreibung nicht ausreichend. Und zwar aus zwei Gründen:

- zum einen muss das Manko der Virtualität, die fehlenden sinnlichen Materialqualitäten der zweidimensionalen Exponate, durch einen geeigneten Kommentar kompensiert werden. Die Notwendigkeit dieser Kompensation verändert das herkömmliche Verhältnis von Exponat und Beschriftung grundlegend. In unserem Museum ist die Beschriftung kein Appendix mehr des Exponates, sondern sein Bestandteil. Das Exponat selbst besteht aus Bild und Kommentar.

- zum andern muss die Besonderheit des pädagogischen Museum, die pädagogische Relevanz seiner Exponate nämlich, vor allem durch den Kommentar hervorgehoben werden. Die übliche Beschriftung in den traditionellen Realmuseen begnügt sich im Grunde mit einer kurzen kulturgeschichtlichen Bestimmung oder wissenschaftlichen Einordnung des jeweiligen Gegenstandes. In einem pädagogischen Museum muss darüber hinaus aber auch seine aktuelle und historische Bildungsbedeutung sichtbar bzw. verständlich gemacht werden. Was heißt das? Was ist der Inhalt eines Kommentars, der die Bildungsbedeutung eines Exponates herausheben will? Um diese Fragen zu beantworten ist vielleicht ein kleiner Exkurs hilfreich.

Kleiner Exkurs: Was heißt Bildung?

Die wichtigste Vorraussetzung für das, was in den klassischen liberalen pädagogischen Konzepten und ihren neueren Nachfolgern Bildung heißt, ist Selbsttätigkeit. Mit diesem Ausdruck, der seit seiner Einführung im ausgehenden 18. Jahrhundert zu den zentralen "einheimischen" Begriffen der Pädagogik gehört, wird das moderne Verständnis vom kindlichen Lernprozess beschrieben. Lernen besteht danach weder in der bloßen Entfaltung eines endogenen Programms, noch in der schlichten Ansammlung von äußeren Daten oder Informationen. In beiden Fällen wäre Lernen am Ende beschränkt auf die dauernde Wiederholung dessen, was ohnehin längst da war, sei es im Innern des Organismus oder sei es in der äußeren Wirklichkeit. Ein individuelles Subjekt könnte so gar nicht entstehen. Es bliebe reduziert auf die Leere einer Projektionsfläche, ein passiver Ort bloßer Widerspiegelung. Vor dieser Konsequenz bewahrt der Begriff der Selbsttätigkeit. Er macht aus dem Lernprozess einen produktiven Vorgang, aus dem nicht nur die kulturelle Welt, sondern auch das individuelle Subjekt, die besondere Gestalt des jeweiligen Ich, selbst erst noch hervorgehen. Der Mensch bildet sich, in dem er, wie Humboldt formulierte, "die ganze Masse des Stoffs, welchem ihm die Welt um ihn her und sein inneres Selbst darbietet, mit allen Werkzeugen seiner Empfänglichkeit" in sich aufnimmt und "mit allen Kräften seiner Selbstthätigkeit" umgestaltet
3. In dem der Mensch die Umstände verändert, die auf ihn wirken "nimmt er selbst Antheil an der Bildung seiner selbst" (Pestalozzi). Er ist, wie die Wirklichkeit, die er hervorbringt, "Produkt seiner Arbeit" (Marx), "Werk seiner selbst" (Pestalozzi).

Über die Struktur der Selbsttätigkeit, die wir im Hinblick auf das individuelle Subjekt als "Selbstbildung" und im Hinblick auf die Kultur als "produktive Arbeit" bezeichnen können, haben die Klassiker der Bildungstheorie nur ziemlich vage Angaben gemacht. So nennt Fröbel etwa in einer berühmten Formulierung die Selbsttätigkeit einen Vorgang, bei dem es darauf ankomme "alles Äußerliche innerlich und alles Innerliche äußerlich zu machen". Aber das bleibt, wie vieles was die Klassiker über die Details der Bildungsbewegung gesagt haben, ungenau und unbefriedigend. Immerhin ist mit dieser nebulösen Formel die Richtung gewiesen. Sie nimmt unter idealistischen Vorzeichen vorweg, was Piaget ein Jahrhundert später, empirisch viel differenzierter und gehaltvoller, unter den Titeln Assimilation und Akkommodation beschrieben hat: die Einverleibung der äußeren Sinnesdaten in die operativen Schemata des Subjekts und die Anpassung dieser Schemata an die äußeren Sinnesdaten. Damit dieses wechselseitige Ineinandergreifen von Assimilation und Akkommodation, diese ständige Veränderung der Außenwelt und die gleichzeitige Bildung des Subjekts über alle Stufen der Äquilibration auch wirklich zustande kommt, ist immer beides notwendig: ein intellektueller oder materieller Gegenstand, ein kultureller Stoff, an dem das heranwachsende Subjekt "die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen"
4, also: "sich bilden" kann, und ein tätiges Ich, das seine äußere Kultur gestaltet, indem es versucht von dem vorgefunden Stoff der Welt "soviel, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden"5. Das "Selbstbildungsereignis", wie Wilhelm Flitner es nennt, und der produktive Aufbau der Kultur sind nur zwei Seiten derselben Medaille. So wie die Kultur die selbsttätigen Subjekte braucht, um sich zu entwickeln, so braucht das Subjekt die Kultur, um sich zu bilden. Denn - in der sentenzhaft knappen Formulierung Wenigers -: "Das Ich ist inhaltslos ohne die Kultur, die Kultur kraftlos ohne das Ich"6. Beide gehören zusammen: das sich bildende Subjekt und die sich entwickelnde Kultur. Sie resultieren aus der gleichen produktiven Bewegung: der Selbsttätigkeit der Menschen. Von dieser hängt beides ab: die Bildung und die Kultur.

Das Selbstbildungsereignis, die gleichzeitige Hervorbringung des Ich und seiner Kultur, kann auf mannigfache Weise gestört sein. Zwei Grundtypen eines gestörten Bildungsprozesses finden sich an den extremen Enden einer Skala, in deren Mitte das Verhältnis von Ich und Objekt in einem dynamischen Gleichgewicht ausgewogen oder austariert ist. An den Enden dieser Skala dominiert jedoch jeweils ein Moment über das andere. An einem Ende dominieren die Dinge über das Subjekt: Es ist abhängig von den Dingen und unfähig ihnen seinen gestalterischen Willen aufzuzwingen. Am anderen Ende dagegen dominiert das Subjekt über die Dinge: Es macht mit ihnen was es will und ignoriert ihre Besonderheiten. Im Grunde sind ihm die Dinge gleichgültig, bloßes Material seiner Selbstinszenierung. In beiden Fällen kommt es zu keiner produktiven Auseinandersetzung, zu keiner Subjekt und Objekt transformierenden Aneignung

Eine noch harmlose Form der Abhängigkeit von den Dingen reflektiert sich in der deutschen Sprache, wenn wir bezeichnenderweise sagen, dass einer seinen Fernseher bediene oder seine Stereoanlage. Vom Bierglas oder von den Schuhen sagen wir das nicht. In diesen Fällen sprechen wir eher davon, dass wir uns ihrer bedienen, sie also zu Werkzeugen machen. Maschinen aber bedienen wir wie die Sklaven ihren Herren. Die Sprache hält fest, was historisch schon der Fall war und immer noch droht, dass nämlich die Menschen nicht Herr sind über ihre mechanischen Gehilfen, sondern umgekehrt in ihren Diensten stehen. Das eigene Produkt wird zur fremden sachlichen Gewalt über uns. Das schönste Beispiel liefert das Auto. Dass das Auto für den Menschen da sei, hat sich inzwischen als Vorurteil erwiesen. Angesichts der Umweltzerstörung, die wir dem Auto verdanken und angesichts der Dienstleistungen, die wir ihm trotzdem angedeihen lassen, scheint der Vergleich mit einem bösen Dämon viel eher angebracht. Das Nutzfahrzeug, das uns die Zeit von einem Ort zum anderen verkürzt, hat uns zugleich in seiner Gewalt. Gleichwohl kommt es zu keinem Widerstand dagegen. Die Macht des Autos scheint uns subjektiv zumindest nicht zu beschränken. Das ist in anderen Fällen anders. Besonders einengend wird die Dingdominanz empfunden bei demjenigen, der von den Gegenständen wirklich besessen ist, sich an sie klammert und dadurch seine Abhängigkeit von den Dingen bestätigt. Das Klammern ist Anzeichen einer auch subjektiv realisierten Obsession und lässt sich in verschiedenen Formen beobachten, beim Fetischisten und beim Geizigen etwa. Wer derart an den Dingen hängt, besitzt sie nicht mehr, sondern ist von ihnen besessen und spürt das auch.

Der umgekehrte Fall liegt vor beim Virtuosen. Er beherrscht die Dinge statt von ihnen beherrscht zu werden. Aber er beherrscht sie so, dass sie von sich aus nichts mehr sagen. Der Virtuose bringt die Dinge zum Verstummen. Zumindest braucht er nicht mehr auf sie zu hören. Er hat ihren Widerstand gebrochen und nutzt sie jetzt nur noch als neutralisiertes Material seiner Selbstdarstellung. Aber immerhin: er bleibt auf dieses Material angewiesen. Der Virtuose muss den Kontakt zu den Dingen halten, sonst fällt seine Inszenierung zusammen und er macht sich lächerlich. Erst der Asket kann dieses Schicksal vermeiden. Er überwindet noch vollständiger als der Virtuose den Widerstand der Dinge, indem er sich aus ihrer Abhängigkeit löst und schließlich ganz auf sie verzichtet. Doch gerade die Radikalität, mit der der Asket den Gegenständen der Welt entsagt, zeigt noch wie sehr er auf sie fixiert bleibt. Aus Angst, die Dinge zu verlieren, sagt er sich von ihnen los und belegt damit im Extrem gerade seine Abhängigkeit von ihnen. Im Extrem schlägt die Freiheit von den Objekten um in die Abhängigkeit von ihnen. Die Extreme berühren sich.

Eine für die Bildung förderliche Beziehung zu den Dingen muss die genannten Extreme meiden. Wer sich in der Auseinandersetzung mit der Welt bilden will, muss Kontakt haben zu den Dingen, aber nicht an ihnen hängen. Er braucht eine mittlere Distanz, die ihm den Spielraum gibt, um die Dinge frei zu nutzen, zu bearbeiten und zu ändern. Vielleicht war das auch gemeint, als Friedrich Schlegel – oder war es Novalis? – forderte, man müsse die Dinge so haben, als ob man sie nicht hätte, oder so nicht haben als ob man sie hätte.


Pädagogische Tätigkeitsanalysen

Nach diesem kleinen, sträflich knappen Exkurs zum Bildungsbegriff - sträflich knapp deshalb, weil er die möglichen Verzerrungen und Verfallsformen der Bildungsbewegung nur typologisch skizziert, aber weder ihre besonderen empirischen Erscheinungsformen beschreibt noch die Gründe für ihre historische und kulturelle Verbreitung analysiert - liegt die Antwort auf die Frage nach dem Inhalt der bildungstheoretischen Kommentare, die im "Orbis digitalis" zu wichtigen Bestandteil der Exponate avancieren, auf der Hand: Um die Bildungsbedeutung eines kulturellen Artefaktes, eines Alltagsgegenstandes, eines Lernmittels, eines Spielzeuges herauszustellen, müssen die Tätigkeiten beschrieben werden, die mit diesem Gegenstand verbunden sind, und zwar sowohl die Tätigkeiten, die ihn hervorgebracht haben, als auch die, die er ermöglicht und evoziert
7. Der bildungstheoretische Kommentar als Bestandteil der virtuellen Exponate sollte – in welcher Darstellungsform auch immer - Hinweise geben auf das, was einer können muss, wenn er den Gegenstand herstellen und nach der Herstellung auf angemessene Weise verstehen und handhaben will. Welche Kompetenzen verlangt sein Gebrauch und seine Produktion? Welche seelischen Regionen werden angeregt, welche sozialen, kognitiven und instrumentellen Fertigkeiten gefördert? Oder auch nicht. Welche Potentiale liegen bei der Beschäftigung mit einem bestimmten Gegenstand brach, welche werden hervorgelockt, welche geübt, und welche werden vernachlässigt oder gar zerstört? Kurz: der bildungstheoretische Kommentar sollte auf die Frage eingehen, was einer im Umgang mit dem ausgestellten Gegenstand lernt oder lernen kann und wie ihn die Wahrnehmung, die Handhabung oder auch Deutung dieses Gegenstandes verändert bzw. "bildet".

In der pädagogischen Literatur haben zuletzt Klaus Mollenhauer und Uwe Uhlendorff Beispiele für derartige bildungstheoretisch inspirierte Tätigkeitsanalysen vorgelegt. In ihrem gemeinsamen Buch "Sozialpädagogische Diagnosen". (1992) suchen sie im Rahmen eines erlebnispädagogischen Praxisprojektes nach Aufgabenstellungen, die den Problemlagen von psychosozial schwer belasteten Jugendlichen angepaßt sind und geeignet erscheinen, deren Bildungsprozesse in einer für diese selbst befriedigenden und für andere sozial erträglichen Richtung weiterzuführen. Nach einer ausführlichen pädagogischen Diagnose, die sie zu diesem Zweck eigens konstruiert haben, entwickeln sie für jeden der Jugendlichen einen "Erziehungsplan", in dem die produktive Handhabung eines speziellen kulturellen Artefakts, eines Handwerkzeuges oder sonst wie technischen Gerätes als Medium der Bildung vorgeschlagen wird. Die Werkzeuge und Geräte, die auf diese Weise in das pädagogische Setting Eingang finden, sind alle von sehr elementarer um nicht zu sagen archaischer Provenienz und sollen den Jugendlichen helfen mit ihren fundamentalen psychischen Konfliktkonstellationen in Kontakt zu kommen und selbsttätig nach Lösungen zu suchen.

So wird z.B.. im Erziehungsplan für einen Jugendlichen, dessen Lebensprobleme sich u.a. manifestierten in körperlich ausgetragenen Konkurrenzkämpfen, in Drogen- und Alkoholkonsum, im Boykottieren des Schulunterrichts, in Unkonzentriertheit und ziellosem Umherstreunen, die Tätigkeit des Angelns empfohlen. Die pädagogische Empfehlung erweist sich zumindest zunächst als praktikabel und nützlich. Der Junge entwickelte, nach entsprechender Anleitung, ein solch starkes Interesse für diese Tätigkeit, dass er schon bald stundenlang am Fluss oder am Meer saß und angelte. Von nun an wirkte er "nach außen wesentlich entspannter und ruhiger" und es fiel ihm auch "immer leichter, sich auf den vormittäglichen Unterricht einzulassen"
8. Die sozial problematischen und Verhaltenweisen des Jungen wurden mit Hilfe des Angelns offenbar umgeformt in sozial verträgliche Produktivitäten, nämlich Köder suchen, Angelhaken präparieren, Angel auswerfen, Aalleinen anfertigen, Fische ausnehmen und räuchern. Trotz einiger 'Rückfälle’ und mancher inneren und äußeren Konflikten ist die Umwandlung problematischer Aktivitäten in eine anerkannte Tätigkeitsform zumindest vorläufig gelungen. Der Bildungsprozess wurde mit Hilfe eines sehr archaischen kulturellen Gegenstandes, der Angel nämlich, auf eine sozial akzeptable Bahn gebracht. "Von allen genannten Tätigkeiten scheint das Angeln, die von ihm in seinen Lebensthemen aufgeworfenen Probleme – wie schaffe ich mir eine Balance zwischen Ruhebedürfnis und meiner 'Hibbeligkeit’, wo und wie kann ich mir einen eigenen Bereich aufbauen, wo ich zu mir selbst finden und mich von anderen abgrenzen kann – am besten aufzuheben. Das Angeln verbindet die von ihm oft als unversöhnlich empfundenen Gegensätze wie Ruhe und Tätigkeit, An- und Abspannung, Rausch und Realität. Wahrscheinlich war es das erste Mal in seinem Leben, dass er für sich einen stabilen Bereich innerhalb einer Gruppe aufbauen konnte, in dem er trotz seiner 'sensitiven Grundhaltung’ durch eine Tätigkeit eine innere Ruhe und eine gewisse 'Ich-Stabilität’ finden konnte"9.

Man fragt sich natürlich nach dieser Schilderung, was genau eigentlich an der Angel und der ihr zugehörigen Tätigkeit eine derartig durchschlagende Bildungswirkung hervorbringen konnte. Die ausführliche Antwort auf diese Frage geben Mollenhauer und Uhlendorff in ihrem "kleinen Tätigkeitslexikon". Es besteht aus einer Sammlung von bildungstheoretisch interessierten Objektkommentaren, wie sie – in abgewandelter Form - auch für das pädagogische Museum 'Orbis digitalis’ geeignet erscheinen. Unter dem Stichwort 'Angeln’ – im Museum müsste das Stichwort wohl 'Angel’ heißen – findet man hier folgende Ausführungen:

"Das Angeln hebt uns nicht nur auf frühe Stufen der Werkzeugentwicklung innerhalb der Menschheitsgeschichte und lässt uns ein archaisches Glücksgefühl nachempfinden, nämlich die Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier, das er mittels eines einfachen Werkzeuges überlistet, sondern das Angeln spricht auch elementare Sinne an, den Gleichgewichtssinn, den Gesichtssinn, den Tastsinn, die Eigenwahrnehmungen der Muskeln und Gelenke. Sie entwickeln sich, mit Ausnahme des Gesichtssinnes, schon im Mutterleib. Dass Tastsinn und Eigenwahrnehmung für die körperliche und seelische Entspannung wichtig sein können, zeigt sich unter anderem beim Angeln. Die Welt unter Wasser bleibt den Blicken und dem Gehör des Anglers verborgen, einzig mit seinem Tastsinn vermag er über einen Mittler, die Angel, in dieses Element vordringen. Das Werkzeug ist sozusagen ein ’verlängerter Fühler’, mittels dessen der Angler sich in eine ihm nicht zugängliche Welt vortastet. Besonders beim Angeln mit Grundblei, aber auch in etwas abgeschwächter Form beim Angeln mit Schwimmer tritt der Augensinn hinter Tastsinn und Eigenwahrnehmung zurück – zumindest solange der Haken unter der Wasseroberfläche ist. Fast der gesamte Körper ist beim Angeln Träger des Empfindungsvorganges, besonders Finger, Hände, Arme, aber auch der Oberkörper; die Beine verharren – die Muskeln sind entspannt – in einer Ruhestellung, um das Beißen der Fische wahrzunehmen. Die sensible Handhabung der Angel, die Anspannung der Nahsinne, die Konzentration auf die leichtesten Zuckungen, die sich über Haken, die Schnur und Angel am eigenen Leib bemerkbar machen und schließlich eine ganzkörperliche Reaktionsbereitschaft zwingen zu Entspanntheit des Körpers, zu einer ruhigen, ausgeglichenen Haltung. Angeln kann Jugendlichen, die leicht reizbar sind und unter Konzentrationsschwierigkeiten und 'Hibbeligkeit’ leiden, unter anderem deshalb zu körperlich Balance verhelfen, weil es im Vergleich zu anderen leibnahen instrumentell gestützten Tätigkeiten eine klare Abgrenzung herstellt zwischen Ich, Leib und Werkzeug einerseits und der Objektwelt andererseits. Der Jugendliche wird nicht mit einer Flut von Reizen überschwemmt, die ihn zu spontanen Entscheidungen zwischen divergierenden Handlungsmöglichkeiten zwingen. Der Angler nimmt sinnlich nur wenige, aber in ihrer Bedeutung klare Impulse aus der Objektwelt wahr, auf die sich sein Interesse richtet; er kann in ihr außer sich kaum etwas bewegen (bis auf das Grundblei auf dem Boden). Er kann sich auch nicht handelnd in die Welt unter Wasser hineinversetzen, seine Handlungsmöglichkeiten über Wasser sind beschränkt. Indem er, um erfolgreiche Beute zu machen, fast unbeweglich und sinnlich empfangend verharrt und sich auf die Wahrnehmung des eigenen Leibes konzentriert, ist er in hohem Maße bei sich. Bis auf einen einzigen Sinnesreiz, den er herbeisehnt, bewegt ihn nur wenig Äußerliches innerlich. Der Jugendliche muss also – vermittelt über den im Angeln erfahrenen Pädagogen – nicht nur den Umgang mit Angel, Schnur und Haken, zielgenaues Auswerfen, verschiedene Fischarten, Köder und Angeltechniken lernen, sondern auch die 'richtige Haltung’".10

Die Beschreibungen, die Mollenhauer und Uhlendorff von den Bildungswirkungen geben, die mit dem materialgerechten Gebrauch der Angel und anderer elementarer Werkzeuge notwendig verbunden sind, zeigen die Richtung, in die wir uns bewegen müssen, wenn wir nach dem Inhalt der bildungstheoretischen Kommentare im pädagogischen Museum suchen.11

Natürlich ist der sozialpädagogische Rahmen zu speziell, um als direktes Vorbild zu dienen. Die besonderen Lebenskrisen von Jungen und Mädchen, die längere und mehrfach wechselnde Heimaufenthalte hinter sich haben oder im Punker-, Prostituierten und Nichtsesshaftenmilieu verkehrten, können weder die alleinigen Kriterien liefern für die Auswahl unserer Exponate noch kann die Beschreibung ihrer einfachen werkzeugvermittelten Tätigkeiten (z.B. Rodung der Maccia-Wildnis, Bau von Backofen und Herd oder eben Angeln) schon das ganze Spektrum von möglichen Dimensionen erfassen, die das Bildungspotential aller Exponaten des pädagogischen Museums kennzeichnen.

Um nicht nur den Bildungswert von archaischen Werkzeugen, sondern von allen denkbaren Objekten einer bildungstheoretisch orientierten Beschreibung bzw. Kommentierung zugänglich zu machen, scheint es für den Zweck einer musealen Präsentation sinnvoll mindestens zwei Tätigkeitsformen zu unterscheiden und gesondert zu behandeln: Wahrnehmungsoperationen und Gebrauchshandlungen. Jede dieser Tätigkeitsformen ist in sich außerordentlich vielfältig und hat mannigfaltige Bildungsprozesse zur Folge. In der realen Praxis werden sie nicht nur aufeinander bezogen und koordiniert, sie sind über den Leib auch organisch in einer kaum auflösbaren Weise ineinander verwoben. Für die Analyse jedoch dürfen und müssen sie auseinander gehalten werden. Wahrnehmungsoperationen lösen eine andere Art von Bildungsprozessen aus als Gebrauchshandlungen. Es macht für die Bildungswirkung einen großen Unterschied, ob ich einen Gegenstand – im Museum etwa – in denkender Betrachtung anschaue oder ob ich ihn – draußen im Alltag – zur Erreichung meiner gesetzten Ziele praktisch gebrauche. Im ersten Fall ist die Gestalt, die Erscheinungsform des Gegenstandes der Ausgangspunkt von bildenden Wirkungen, im anderen Fall der reale Umgang mit ihm.

Ein Stuhl z.B. ist ein Objekt der Wahrnehmung, wenn man ihn als gelb, hart, kantig usw. betrachtet oder als Designobjekt würdigt. Er ist aber auch ein Gebrauchgegenstand, wenn man ihn zweckgerichtet nutzt, um am Tisch zum Abendessen Platz zu nehmen. Solange er dabei seinen Dienst tut, wird er so gut wie nicht mehr wahrgenommen. Erst wenn er unter dem Benutzer zusammenbricht, ihn an den Oberschenkeln drückt oder seinem Rücken Schmerz bereitet, wird er wieder betrachtet und begutachtet als Auslöser der Pein. Die Aufmerksamkeit die er nun plötzlich wieder auf sich zieht, ist ein Beleg dafür, dass er seinen Zweck nur unzureichend oder gar nicht erfüllt hat.

Wahrnehmungsoperationen

Die Wahrnehmungsoperation behandelt oder besser: erzeugt den Gegenstand zunächst als sinnliches "Phänomen", als Erscheinung, die verschiedenste Merkmale aufweist: Form, Größe, Farbe, Gewicht, Härte, Oberflächenbeschaffenheit usw. Die Frage nach dem Bildungseffekt dieser Wahrnehmungsoperation ist deshalb die Frage nach der besonderen Art der Sinnestätigkeit, die bei der Wahrnehmung oder der Konstitution des jeweiligen Gegenstandes beteiligt ist. Traditionell unterschiedet man dabei die Tätigkeit der Fernsinne (Sehen, Hören) und die der Nahsinne (Tasten Riechen, Schmecken usw.). Es ist natürlich etwas anderes, ob man einen Gegenstand aus der Ferne, mit gehöriger Distanz wahrnimmt, sieht oder hört, oder ob man ihn mit den Nahsinnen direkt berührt, betastet, streichelt, stößt, sticht, reißt, kratzt, schlägt, knetet, drückt usw.. Die Bildungsbewegung nimmt jedes Mal einen völlig anderen Verlauf. Charakteristisch für Naherkundungen oder Berührungswahrnehmungen ist das egologische Moment, d.h. der stärker private Charakter der Wahrnehmung. Die Distanzlosigkeit gegenüber dem Gegenstand führt zu einer Intimität der Wahrnehmung, die bei den Fernsinnen so nicht gegeben ist. Bei der Wahrnehmung durch die Nahsinne wird aus dem Gegenstand schnell – wie Langeveld es ausdrückt – ein "rein-Sensuelles-für-mich". Aus dem Pantoffel z.B. wird ein "haariges Etwas".
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Unter Berücksichtigung dieser Unterscheidung und damit der Differenz im Bildungssinn der einzelnen Sinne, sollte ein bildungstheoretisch interessierter Objektkommentar Fragen der folgenden Art aufgreifen und beantworten: Welche Rückwirkungen auf das wahrnehmende Subjekt hat die sinnliche Erscheinungsform des Gegenstandes, seine Gestalt, seine Farbe, sein Gewicht, seine Größe, seine Materialqualität, seine Machart, sein Design usw.? Zu welchen Wahrnehmungsdifferenzierungen gibt sie Anlass? Welche Sinne sind beteiligt? Welcher Art sind die Sinneseindrücke: vielfältig – monoton; einfach – komplex; kontrastiv – homogen? Welche Sinnesempfindungen löst die Erscheinungsform und materielle Gestalt des Gegenstandes bei dem Betrachter aus: angenehme – unangenehme; ruhige ausgeglichene Stimmung – heftige Impulse und Affekte; Klarheit – Verwirrung? Was spürt der Betrachter beim Anblick des Gegenstandes? Was beim Berühren und Betasten? Welche Resonanz erzeugt er in seinem Innern? Welche Bedürfnisse werden ausgelöst bzw. erzeugt durch die visuelle bzw. taktile Wahrnehmung des Gegenstandes?
13 In welches Verhältnis bringt ihn der Gegenstand zu seinem Körper? Welche "Gefühle", welche "Erinnerungen" ruft das Objekt hervor?. Wirkt der Gegenstand in der Gesamtheit seiner Merkmale harmonisch oder disharmonisch, schön oder hässlich? Erzeugt er eine im strengen Sinne Kants ästhetische Lust oder weckt er nur das Begehrungsvermögen?14

Die Wahrnehmung eines Gegenstandes erschöpft sich allerdings nie in der bloßen Registrierung von Sinnesdaten. Wir nehmen einen Gegenstand immer als einen bestimmten Gegenstand wahr, d.h. wir grenzen ihn – nach Maßgabe unseres Vorwissens, dem Resultat unserer bisherigen Lerngeschichte - ab und setzen ihn damit zu dem, wovon er abgegrenzt ist, zu seiner Umgebung insgesamt oder zu einzelnen Gegenständen der gleichen oder verschiedenen Art, in Beziehung. Anders gesagt: wir geben jedem Gegenstand im Augenblick, in dem wir ihn mit den Nah- oder Fernsinnen erfassen schon eine Bedeutung: dem Baum die Bedeutung Baum, dem Kartentisch die Bedeutung Kartentisch und der Teekanne die Bedeutung Teekanne. Ein bedeutungsfreies, reines Sehen, "die Unschuld des Auges", die Ruskin propagiert hat
15, gibt es nicht. Unser Sehen ist immer schon gesellschaftlich prästrukturiert. Das gleiche gilt fürs Hören. Wir hören nicht einfach nur Geräusche. Wir hören immer etwas Bestimmtes: Das Quietschen der Bremsen, das Knallen der Tür, das Schreddern der Schreddermaschine. Jedes Geräusch bekommt, in dem Moment, in dem es das Ohr erreicht schon eine Bedeutung zugewiesen, auch wenn sich diese Bedeutung dann im Nachhinein als falsch erweisen sollte. Kurz: Unsere Wahrnehmungstätigkeit ist ein sinnstiftender Vorgang16.

Einen schönen Beleg für diesen sinnstiftenden Charakter unserer Wahrnehmungstätigkeit liefert das berühmte Experiment des Filmemacher Pudowkin. Er montierte zu Demonstrationszwecken in einem Filmstreifen die Naheinstellung eines völlig gleichgültigen Männergesichtes erst mit der Aufnahme eines leeren Suppenteller, dann mit dem Bild einer jungen Frau, die tot im Sarg liegt, und zuletzt mit einem spielenden Kind. In Kombination mit dem leeren Teller erschien das eigentlich ausdruckslose Männergesicht auf einmal den Zuschauern hungrig oder zumindest gedankenvoll, in Kombination mit der toten Frau im Sarg traurig-betrübt und in Kombination mit dem spielenden Kind schien es zu lächeln. Das Publikum staunte über das reiche Mienenspiel des Mannes und glaubte einen großen Schauspieler in ihm erkennen zu können. Doch das Männergesicht war jedes Mal dasselbe ausdruckslose Gesicht. Erst die Zuschauer gaben ihm durch den Vergleich mit dem Kontext eine jeweils andere Bedeutung.

Belege dieser Art gibt es unzählige. Sie zeigen immer, dass unseres Sinnestätigkeit in Abhängigkeit vom vorgestellten inneren oder vom vorgefundenen äußeren Kontext den sichtbaren Dingen eine Bedeutung zuschreibt. Für den Wanderer ist der Baum ein Schattenspender, für den Forstwirt ein Rohstoff, für die Kinder ein Klettergerüst. "Stets liegt das 'Etwas‘ der Wahrnehmung im Umkreis von Anderem, stets ist es Teil eines 'Feldes‘".
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Durch die innere und äußere Kontextbezogenheit der Wahrnehmung wird alles, was wir sehen, hören, tasten schmecken usw. zum Moment eines Sinnzusammenhanges. Die ganze Welt erscheint als ein bedeutungsvolles Universum. Jedes Ding darin ist ein Zeichen, das auf andere Zeichen verweist. Als Zeichen sind die Dinge aber nicht nur hervorgebracht durch die sinnstiftende Tätigkeit des Wahrnehmenden, sondern schon vorher durch die produktive Tätigkeit der Menschen. Die Dinge sind als bedeutungsvolle Zeichen in doppelter Weise präfiguriert, durch das wahrnehmende Organ und durch die gesellschaftliche Arbeit, die in ihnen steckt. Die sinnstiftende Tätigkeit der Wahrnehmung wird dadurch zugleich zu einer deutenden Tätigkeit. Die Dinge werden nicht nur von anderen unterschieden und damit als bedeutungsvolle Phänomene hervorgebracht, sie wollen auch wie Zeichen eines kulturellen Textes, als Indizien, Modelle, Metaphern und Exempel verstanden und gedeutet werden.

Unter der Voraussetzung, dass Dinge Zeichen sind und ihre Wahrnehmung immer auch ihre Deutung impliziert, stellen sich in bildungstheoretischem Interesse u.a. folgende Fragen: Welcher Art ist die Deutungs- oder Interpretationsleistung, die vom Betrachter eines Gegenstandes verlangt wird? Welche Verknüpfungen muss er vornehmen, welche Vergleiche anstellen, welche Analogien ziehen? Über welche Deutungskompetenzen und über welche Wissensbestände muss er verfügen, wenn er das Dingzeichen verstehen will? Was erzählt ihm der Gegenstand über die Kultur, die Epoche, die Lebenswelt, aus der er stammt? Was teilt der Gegenstand, seine Form, sein Material, seine Verarbeitungsweise, sein Dekor mit über seinen Entstehungs- und Verwendungszusammenhang? Inwiefern ist der Gegenstand "Ausdruck" seiner Zeit? Der bildungstheoretische Kommentar zu einem Exponat des pädagogischen Museums sollte also Antwort geben auf die Frage, was vorzugsweise Heranwachsende durch die deutende Betrachtung des Gegenstandes lernen können: über die Kultur aus der der Gegenstand stammt, über Herstellungs- und Verwendungsweisen, über Ansichten, Werte und Perspektiven der Vorfahren usw.

Deutungsoperationen, wie sie alle Menschen, nicht zuletzt die Heranwachsenden, bei der Wahrnehmung ihrer dinglichen Umwelt alltäglich vornehmen, finden auch in der Wissenschaft statt. Auch die Wissenschaft interessiert sich für den Informationsgehalt, den Quellenwert oder die mögliche Symbolbedeutungen von Gegenständen. Ihre Verstehensprozesse unterscheiden sich von denen im Alltag nur durch den Grad der Standardisierung bzw. Formalisierung und den Grad der Explikation. Während die alltäglichen Dingdeutungen im Normalfall mehr oder weniger unbewusst und in vielen Hinsichten blitzschnell, d.h. automatisiert ablaufen, werden sie in der Wissenschaft zeitlich gestreckt und methodisch reflektiert. Welch reichhaltigen Formen wissenschaftliche Dingdeutungen dabei annehmen können, zeigen die Untersuchungen in den einschlägigen Disziplinen von der Archäologie über die Ethnologie und Volkskunde bis zu den modernen Kulturwissenschaften. Alle diese Fachwissenschaften richten ihre methodisch gelenkte Aufmerksamkeit mal mehr mal weniger ausschließlich auf das, was wir uns inzwischen gewöhnt haben 'material culture’ zu nennen. Das macht sie für den bildungstheoretischen Kommentar so interessant. Die Kategorien und Verfahrensweisen der archäologischen, ethnologischen und volkskundlichen Dinganalysen dürften für die Bestimmung dessen, was beim alltäglichen Wahrnehmen und beim kontemplativen Betrachten von Gegenständen unbewusst und bewusst gelernt werden kann, überaus hilfreich sein. Beispiele für derartige fachwissenschaftlich orientierte Dinganalysen gibt es einige. Besonders nützlich scheint mir die Studie von Jules David Prown, der zwei Teekannen - die eine aus Zinn, die andere aus Silber - aus der Zeit vor und nach der amerikanischen Revolution untersucht, und zwar im Hinblick auf "the values, ideas, attitudes, and assumptions"
18 der damaligen Gesellschaft, die darin zum Ausdruck kommen. Die kulturanthropologische Studie ist methodisch so überzeugend, dass es einer Wiederholung des Verfahrens am Beispiel von zwei Kartentischen schon fast gar nicht mehr bedurft hätte. In beiden Fällen gelingt es Prown seine Ausgangsthese, nach der "like dreams artifact are, in addition to their intended function, unconscious representations of hidden mind"19 eindrucksvoll zu belegen. Neben dem Werkstoff und der Verarbeitungsweise sind es vor allem die Form und der Stil eines Dinges, in denen nach Prown die Ansichten, Werte, Ideen einer bestimmten Zeit ziemlich unverfälscht zum Vorschein kommen. Man muss sie nur richtig lesen. Auch die Archäologin Rita P. Wright liefert mit ihrem Text "Technological Styles: Transforming a Natural Material into a Cultural Object"20 ein überzeugendes Beispiel für das, was man "Dinganalyse" oder vielleicht auch "Dinghermeneutik" nennen könnte. Der Gegenstand ihres Interesses sind Tongefäße aus der Produktion der Harappan-Zivilisation. Sie betrachtet diese Tongefäße aber weniger als Symbole oder Metaphern für unbewusste Geisteshaltungen, wie Prown, sondern eher traditionell als Indizien, die zusammen mit der Analyse des Fundortes, also des Grabungsumfeldes, genauen Aufschluss versprechen über die konkreten Herstellungsvorgang, die Arbeitsbedingungen, die soziale Beziehungen der Produzenten und das Distributionssystem damals. Man kann es auch so sagen: Rita P. Wright versucht, wie es sich für Archäologen seit je gehört, ihre Fundstücke so auszuwerten, dass über die Analyse ihrer formalen, stilistischen und technologischen Merkmale, bis hinunter in die Mikroebene der chemischen Zusammensetzung, die ursprünglichen Produktions- und Verwendungszusammenhänge rekonstruiert und schließlich die gesamten sozialen und organisatorischen Strukturen einer vergangenen Kultur sichtbar gemacht werden können. Auch dieser "archäologische Blickwinkel" ist für die bildungstheoretischen Kommentare in unserem Museum wichtig und nützlich. Vor allem der Bildungssinn historischer Exponate lässt sich ohne Kenntnis der ehemaligen Herstellung- und Verwendungskontexte kaum zureichend beschreiben.

Gebrauchshandlungen

Die Dinge lösen Bildungsprozesse aber nicht nur aus, wenn wir sie aus der Ferne oder aus der Nähe im Zusammenspiel der Sinne und der Verstandeskräfte wahrnehmen und deuten, sondern auch wenn wir sie als Mittel zur Erreichung eines definierten Zweckes gebrauchen. In diesem Falle geht die Bildungswirkung des Gegenstandes nicht mehr aus von der Wahrnehmung und Deutung seines Erscheinungsbilds, sondern von seiner praktischen Verwendung. Diese praktische Verwendung, die Gebrauchhandlung also, kann der expliziten Funktionsbestimmung des jeweiligen Gegenstand mehr oder weniger angemessen sein, sie kann den Gegenstand ungeschickt oder virtuos handhaben, seine verborgenen materialen und formalen Möglichkeiten nutzen oder ignorieren, sie kann ihn experimentell und vorschriftsmäßig einsetzen, immer ist sie auf einen Zweck bezogen. Je nach dem Zweck, für den ein Gegenstand als Mittel eingesetzt wird, lassen sich zwei große Gruppen von Gebrauchshandlungen unterscheiden: produktive und kommunikative. Im ersten Falle dient der Gegenstand als Werkzeug und Material
21 der Arbeit im zweiten als Medium der Kommunikation. Als Werkzeug findet er Verwendung bei der Veränderung unserer materiellen Lebensbedingungen, als Medium der Kommunikation definiert er die sozialen Beziehungen, das Verhältnis der Menschen zueinander.

Der Gegenstand als Arbeitsmaterial und Produktionswerkzeug: Im Begriff des Werkzeuges ist impliziert, dass es einer Regel folgt. Ohne eine sich gleich bleibende Verwendungsregel wäre das Werkzeug kein Werkzeug, sondern bloßes Material der Produktion. Ein Werkzeug muss, solange es das gleiche Werkzeug bleiben soll, unangesehen wechselnder Umstände, immer in der gleichen Weise angewendet werden können. Insofern ist das Werkzeug, wie Hegel notierte, "etwas Höheres" als die Genüsse, die es ermöglicht. "Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden"
22. Dieses "Höhere" des Werkzeuges, sein Rang, seine Konstanz hat aber seinen Preis. Die Werkzeuge unterstützen nicht nur die Tätigkeit des Menschen, geben ihr nicht nur Dauer und Konsistenz, sie legen diese Tätigkeit auch fest und schränken sie damit ein: "So kann ich mit einem Meißel nur stoßen, schneiden, schaben oder sprengen. Ich fühle mich also durch jedes bestimmte Werkzeug auf eine besondere Art von Wirksamkeit eingeschränkt. Diese besondere Sphäre kann ich freilich unendlich variieren, so oft die Wirkung modifizieren – durch Änderung des Stoffes – und Variation der Elemente der Wirkung".23 Aber die Festlegung und Einschränkung bleibt bestehen. Indem der Mensch mit Hilfe einer geregelten Werkzeugverwendung die Gegenstände seiner Umwelt bearbeitet und formt, formt und bearbeitet er sich auch selbst.24 Das Werkzeug formt nicht nur das Material, sondern rückwirkend auch den Menschen, der es benutzt. Es ist im strengen Sinne des Wortes ein 'Mittel’. Novalis hat diesen Zusammenhang in Bezug auf den Künstler so formuliert: "Jedes Werkzeug modifiziert also einerseits die Kräfte und Gedanken des Künstlers, die er zum Stoff leitet, und umgekehrt – die Widerstandwirkungen des Stoffes, die es zum Künstler leitet".25 Deshalb ist der Umgang mit einem Werkzeug in höchstem Maße bildungsrelevant. Was für ein Mensch ich werde oder bin, das hängt nicht zuletzt von den Werkzeugen ab, mit denen ich täglich arbeite. Tintenkuli, Hobel oder Fließband machen aus denen, die damit umgehen, jeweils andere Menschen. Das ist im Grunde eine Trivialität. Die Frage ist nur wie man die These von der Bildungsrelevanz der Produktionswerkzeuge einer empirischen Prüfung zugänglich macht und in die Form eines interessanten und erfahrungshaltigen Objektkommentars überführt. Vielleicht hilft hier der Aufsatz von Michael Owen Jones etwas weiter "Why take a behavioral approach to Folk Objects?"26 Jones deutet in diesem Essay am Beispiel der Handanfertigung von Stühlen zumindest an, wie die Bildungswirkung eines Werkzeuges beschrieben werden könnte. In Abgrenzung von einer in der Folkloreforschung bzw. Volkskunde bislang offenbar verbreiteten Vorgehensweise, die sich damit begnügt den untersuchten Alltagsgegenstand nach Epochen und Stilkategorien zu klassifizieren und seine Symbolik zu entschlüsseln, plädiert er für einen neuen verhaltensorientierten Ansatz, den so genannten "behavioral approach". Charakteristisch für diesen "Approach" ist das Interesse an den Tätigkeiten, die mit der Herstellung und dem Gebrauch eines Artefaktes in Zusammenhang stehen. Um die subjektive Bedeutung – man könnte auch sagen die Bildungsrelevanz - dieser Tätigkeiten an einem Beispiel zu untersuchen richtet Jones seine Aufmerksamkeit auf den Stuhlmacher Aaron, der sein Handwerk autodidaktisch gelernt hat und nun in ausführlichen Gesprächen mit dem Feldforscher u.a. Auskunft gibt über sein Know-how, also sein Wissensbestand und seine Fertigungskompetenz, seine Materialpräferenzen, seine Vorlieben für ein spezielles Design, sein Gefühl für Größen und Proportionen, über seine Konstruktionsweise, seine Inspiration, seine Motive und Qualitätsvorstellungen. Auch wenn diese subjektiven Schilderungen die Analyse des objektiven Bildungssinns eines Gegenstandes nicht ersetzen können, so bahnen sie doch schon einen Weg dahin und liefern über den autobiografischen Umweg, über Erinnerungen, Wirkungsbeschreibungen, Präferenzangaben, Motive usw. immerhin erste Hinweise auf die Bedeutung, die der produzierte Gegenstand, hier ein Stuhl, nicht nur für die Bildung eines einzelnen Produzenten, sondern für die Bildung des Subjekts überhaupt haben könnte.

Der Gegenstand als Kommunikationsmedium: Gegenstände werden freilich nicht nur als Materialien zur Herstellung eines dinglichen Artefaktes und als Werkzeuge gebraucht, sie können auch als Medium der Kommunikation dienen, und zwar auf doppelte Weise: direkt und indirekt. Indirekt ist jedes Werkzeug, jedes Mittel zur Bearbeitung von Material, durch die Verwendungsregel, der es notwendigerweise gehorcht, auch ein Mittel der Verständigung. Der Einsatz eines Werkzeuges kann nämlich, gerade weil er geregelt ist, prinzipiell von jedem anderen Subjekt wiederholt und deshalb auch verstanden werden. Die Menschen verstehen sich, indem sie sich gemeinsam "auf etwas" verstehen. Verstehen heißt nach Wittgenstein eine Regel, einen Code der Werkzeugverwendung, eine "Technik" gemeinsam beherrschen.
27 Weil wir z.B. die Verwendungsregeln eines Füllfederhalters kennen, verstehen wir, was einer macht, wenn er am Schreibtisch sitzt und mit dem Füllfederhalter in der Hand Spuren über das weiße Papier zieht: er schreibt und teilt uns indirekt mit, dass er nicht gestört werden möchte. Der Gebrauch des Füllfederhalters erzeugt so gesehen nicht nur eine Botschaft an den möglichen Briefpartner, er impliziert auch eine Botschaft an den außenstehenden Beobachter: bleib’ auf Distanz, ich schreibe und muss mich konzentrieren. Derartige indirekte Botschaften sind mit jedem Werkzeug- und Spielzeuggebrauch verbunden. Wer auf einer Wippe Platz nimmt, teilt so – ohne dass ein Wort gesagt werden müsste – seinen Spielkameraden indirekt mit, dass er sich einen von ihnen als Spielpartner wünscht, denn die Wippe ist mit ihren gegenüberliegenden Plätzen ein kooperatives Spielzeug, das, wie Langeveld formuliert, die Spieler "einander zuordnet".28 Die Mitteilung eines Kooperationswunsches mit Hilfe eines Gegenstandes kann mal deutlicher und mal weniger deutlich ausfallen. Beim Ball ist sie z.B. weniger deutlich, denn mit diesem Spielgerät kann man auch allein spielen.

Dass ein Gegenstand nicht nur indirekt, sondern auch direkt zu kommunikativen Zwecken eingesetzt werden kann, zeigt Appadurai in dem von ihm herausgegebenen Band mit dem bezeichnenden Titel: "The sozial life of things". In seinem eigenen Beitrag
29 verweist er in diesem Sammelband unter Bezugnahme aus Marx und Simmel einerseits auf die kommunikative Funktion des Warentauschs und andererseits unter Bezugnahme auf Bourdieu und Mauss auf die kommunikative Funktion des wechselseitigen Schenkens.30 Beim freien Warentausch nutzen wir die Dinge, um uns über ihren Wert zu verständigen und uns dabei wechselseitig in unserem Selbstverständnis als freie, gleiche, besitzende und geschäftsfähige Individuen zu bestätigen. Im Augenblick des Tauschaktes verwandeln sich die Produkte in Medien der Kommunikation, die geeignet sind sozialen Kontakt zu stiften und wechselseitige Anerkennung zu bezeugen. Beim Schenken nutzen wir die Dinge, um dem anderen symbolisch – "durch die Blume" – mitzuteilen, welchen Wert er für uns hat und welche Erwartungen wir im Hinblick auf sein zukünftiges Verhalten hegen. Anders gesagt: Über das gegenständliche Geschenk teilen wir dem Beschenkten mit, was wir von ihm halten und was wir von ihm wollen. So kann das Geschenk zu einer Aufforderung werden, wie z.B. die leere Schachtel in dem Fall, den Langeveld beschreibt.31 Bei den einflussreichen Männern des Massim-Stammes an der östlichen Spitze Neuguineas wurde - wie Appadurai unter Hinweis auf eine Studie von Nancy Munn (1977) berichtet - das wechselseitige Schenken von Wertgegenständen zu einem komplexen System des Gabentauschs entwickelt, das nicht nur die Zirkulation der Objekte sichert und damit die Funktion eines freien Marktes übernimmt, sondern auch den jeweiligen Besitzern der getauschten Objekte temporäres Ansehen und Ruhm verschafft. Man kann sagen, dass diese Form des Tauschhandels, das so genannte Kula-Sytem, denjenigen, die daran teilnehmen, die Gelegenheit gibt, Gegenstände als soziale Medien, als kommunikative Instrumente der Statuszuweisung zu benutzen. In etwas anderer Form finden wir diese kommunikative Verwendung von Gegenständen auch in unseren westlichen Gesellschaften, wenn Wertgegenstände zu Statussymbolen erhoben werden und den anderen mitteilen, wer man ist und wozu man es gebracht hat.

Das mag vorerst genügen. Die Abläufe beim instrumentellen und kommunikativen Gebrauch von Gegenständen sind in Wirklichkeit natürlich viel komplizierter, aber die Andeutungen bei Jones und Appadurai reichen vielleicht aus, um noch ganz unsystematisch eine Reihe Fragen zu formulieren, auf die man in den Objektkommentaren unseres Museums eine wie auch immer knappe Antwort erwarten darf: Welche praktischen und kommunikativen Kompetenzen verlangt der Einsatz der einzelnen Instrumente, Materialien und Medien, die wir in dem kulturellen Werkzeugkasten vorfinden? Welches Niveau der Planung und Zeitorganisation wird durch die Ausrichtung des Werkzeuges oder Mediums auf den antizipierten Zweck erzwungen? Welcher Rhythmus, welches Tempo, welche Sequenzierungen verlangt die Anwendung eines Werkzeuges und die Verarbeitung eines bestimmten Materials? Welches Ausmaß an Geduld, Ausdauer und Frustrationstoleranz gehen im Normalfall mit der Verwendung des Werkzeuges einher? Welche instrumentellen Fertigkeiten und welche sozialen oder kommunikativen Kompetenzen werden für die Herstellung und welche für den Gebrauch des Gegenstandes vorausgesetzt bzw. entwickelt und geübt? Welche Erwartungen und Erwartungs-Erwartungen sind mit dem Gebrauch des Gegenstandes verbunden? Welche Koordinationsleistungen im Bereich der Fein- oder Grobmotorik verlangt die praktische Handhabung des Gegenstandes? Wie wird die Kontaktaufnahme mit dem Gegenstand vollzogen? Welche Bewegungen sind zum Ergreifen des Gegenstandes notwendig: vorfühlendes Erkunden, plötzliches Zupacken, langsames Herantasten, allmähliches, gefühlvolles Anschmiegen? Welche Art von Griff oder Zugriff .ist dem Gegenstand angemessen: fest, locker, kraftvoll, Festhalten mit der abriegelnden Gewalt des Daumens usw.? Welcher Art sind die körperlichen Anstrengungen, die das Werkzeug von seinem Benutzer verlangt? Welche körperlichen Bewegungen sind mit dem Gebrauch des Werkzeuges verbunden: regelmäßiges, d.h. rhythmisches oder unregelmäßiges Pochen, Schlagen, Hämmern, Ziehen, Stoßen, Schaben, Kratzen, Zupfen usw.? Welche Art von Gesten: Streuen, Einkreisen, Schließen, Öffnen, Beugen, Strecken, Ausholen, Justieren, Festhalten usw.? Welche Empfindungen, Stimmungen, Impulse begleiten die Körperbewegungen und Gesten, die mit dem Werkzeuggebrauch verbunden sind? Zu welcher Art von sozialen Beziehung nötigt der Gebrauch des Gegenstandes: hierarchisch – egalitär; kooperativ – kompetitiv, isoliert – gesellig usw.? Welche Aufwand an Verständigung und wechselseitiger Abstimmung verlangt der Gebrauch eines Gegenstandes? Welche Verabredungen müssen vorher getroffen und welche Erwartungen müssen in actu wechselseitig antizipiert und ausgetauscht werden? usw. Kurz: was muss man für den angemessenen Gebrauch eines Gegenstandes können und was lernt man durch diesen Gebrauch?

Literatur

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DORSCHEL, Andreas: Gestaltung – zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg 2001
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1 Vgl. u.a. BORHEGYI, S.F., HANSON, I.A.: Chronological bibliography of museum visitor surveys. In: LARRABEE, Eric (Hg.): Museums and education. Washington, D.C. 1968. S.239 – 251; DAVID, J./ BITGOOD, S.: Visitor studies in art museums: a selected annotated bibliography. Jacksonville, Al. 1991; ELLIOTT, P./ LOOMIS, R.J.: Studies of visitor behavior in museums and exhibitions: An annotated bibliograhpy of sources primarily in the English language. Washington 1975; HOOD, M.G.: Visitos studies. A bibliography of theses and dissertations, part 2. In: Visitor Behavior. 5 (1990) Nr.2 S. 4 - S. 6; PEARCE, S.M.: Museum studies bibliography. 10th edition. Leicester 1991; SCREVEN, C.G.: Educational evaluation and research in museums and public exhibits: a bibliogr. . In: Curator 27 (1984) S. 147 - S. 165; SCREVEN, C.G./ SHETTEL, P.: Visitor Studies Bibliography and abstracts. 1993
2 Vgl. zusammenfassend: DEVENISH, David C.: Museum Display Labels : The Philosophy and Practice of Preparing, Written Labels and Illustrations for Use in Museum Displays. o. O. (Calcutta), o. J. (1997). (ICOM Golden Jubilee Publication, Indian National Committee of ICOM); außerdem die Arbeiten von S. BITGOOD und J.M LITWAK. In Deutschland wurden die Probleme der Objektbeschriftung vor allem von H. J. KLEIN, A. NOSCHKA-ROOS und T. WEBER empirisch erforscht.
3 HUMBOLDT, Wilhelm v.: Über Goethes Hermann und Dorothea. In: Ders.: Werke in Fünf Bänden, II., Darmstadt 1969, S.127/8).
4 HUMBOLDT, W.v.: Theorie der Bildung des Menschen (1793), In: Ders.: Werke in Fünf Bänden, I., Darmstadt 1969, S. 235
5ebd.
6 WENIGER, Erich.: "Bildung", in: Sachwörterbuch der Deutschkunde, hg. v. U. Peters u.a., Leipzig/Berlin 1930, S.165
7 vgl. "...der Gegenstand verlangt von uns, dass wir etwas mit ihm tun", LANGEVELD, Martinus, J.: Das Ding in der Welt des Kindes, in: ders.: Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen 1956, S. 95
8 MOLLENHAUER, K./ UHLENDORFF, U.: Sozialpädagogische Diagnosen. Über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen. Weinheim, München 1992, S. 83
9 ebd. S. 85
10 ebd. S.116-118
11 vgl. die virtuelle Vitrine "Elementare Dinge", in der Nicole Rockweiler versucht, die Anregungen von MOLLENHAUER/UHLENDORFF direkt aufzugreifen.
12 LANGEVELD, Martinus, J.: Das Ding in der Welt des Kindes, in: ders.: Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen 1956, S. 93. Zur Erinnerung: im virtuellen wie im herkömmlichen Museum kommt nur die Bildungswirkung der beiden Fernsinne, vor allem des Gesichtssinns zum Tragen. Die Bildungswirkung der Nahsinne wird durch das im Museum geltende Tast- und Berührungsverbot unterdrückt. Man muß sich fragen, was dieser Tatbestand für die Art der Bildungsbewegungen bedeutet, die im Museum einzig möglich sind. Die Erfahrung eines "rein-Sensuellen-für-mich" (Langeveld) ist offenbar nicht darunter.
13 Es gibt wohl kein Bedürfnis, das irgendwo im Innern bloß darauf wartet "ausgelöst" zu werden. Bedürfnisse werden durch die äußeren Erscheinungen, auf die sie sich richten, immer auch z.T wenigstens mit erzeugt. Daß man ohne Computer und ohne Auto nach allgemeiner Ansicht heute nicht leben kann, liegt daran, dass es Computer und Autos gibt. Es handelt sich hierbei um einen Aspekt dessen, was Marx als Dialektik von Produktion und Konsumtion analysiert hat: "Die Produktion liefert dem Bedürfnis nicht nur ein Material, sondern sie liefert dem Material auch ein Bedürfnis." Das Bedürfnis nach einem Computer wird durch die Wahrnehmung des Computers erst geschaffen. Bildungstheoretisch kann man diesen Zusammenhang mit Marx auch so ausdrücken: "Die Produktion produziert daher nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand" (MARX, K.: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, S. 624)
14 Es gibt nach KANT zwei Arten von lustvollen Wirkungen, die von der Erscheinungsform eines Gegenstandes ausgehen können: das ästhetische, d.h. interesselose Wohlgefallen und die Sinneslust, d.h. das sinnlich Angenehme. Im letzten Falle wird das. Begehrungsvermögen angesprochen bzw. geweckt. Mit dem Versprechen von Erfolg in Sex und Beruf z.B. oder mit dem Versprechen ewiger Jugend und sozialer Anerkennung werden in der Werbung Feuerzeuge, Uhren, Füllfederhalter, Bohrmaschinen, Kameras, Stereoanlagen und natürlich Autos attraktiv, d.h. begehrenswert gemacht. Beim Erwerb des Objektes sollen sich die gegebenen Versprechen erfüllen. Aber die Versprechen der Reklame sind Seifenblasen. Sie zerplatzen, sobald man danach greift. Bei vielen Designobjekten verhält es sich ähnlich. Während die in Illustrierten abgedruckte Werbung den Produkten nur äußerlich angehängt wird, verlegt das Design die Werbung für das Produkt in das Produkt selbst. "Die Branche, die sich Design nennt, hat ihre Geschäftsgrundlage in nicht unbeträchtlichem Maße, ja vielleicht überhaupt darin, eine Kundschaft, die bereits alles hat und demzufolge nichts mehr braucht, kraft der schieren Macht der ästhetischen Erscheinung ein ums andere Mal zur gefährlichsten, weil freiwilligen Abhängigkeit zu verleiten: der Begehrlichkeit." (DORSCHEL, Andreas: Gestaltung – zur Ästhetik des Brauchbaren, Heidelberg 2201, S. 21)
15 John RUSKIN, der dem Künstler in seiner theoretischen Schrift "The Elements of Drawing" folgenden Rat erteilt: "Alles, was Sie in Ihrer Umwelt sehen, stellt sich als Kombination von Farben in verschiedenen Schattierungen dar [. . .] Die technische Fähigkeit zum Malen hängt von etwas ab, das man als die Unschuld des Auges bezeichnen könnte: das heißt, von der Möglichkeit, diese planen Farbflecke auf eine kindliche Weise wahrzunehmen, ohne Bewußtsein ihrer Bedeutung - so wie ein Blinder, wenn er plötzlich doch sehen könnte" (John RUSKIN "The Elements of Drawing" (1857), in: The Works of John Ruskin, hrsg. Von E.T. COOK und Alexander WEDDERBURN, Bd.15, London 1903-1912, S.27, zit.n. Jonathan FINEBERG: mit dem Auge des Kindes. Kinderzeichnung und moderne Kunst, Ausst.Katalog, München 1995, S.21)
16 vgl. LANGEVELD, Martinus, J.: Das Ding in der Welt des Kindes, in: ders.: Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen 1956, S.91-93
17 MERLEAU-PONTY, Phänomenologie der Wahrnehmung (1945). Übers. und mit einem Vorwort eingef. von Rudolf Boehm. Berlin 1966, S. 22.
18 vgl. PROWN, Jules David: The Truth of Material Culture: History or Fiktion, in: LUBAR, Steven/KINGERY, W.David (Hg.): History from Things. Essays on Material Culture, Smithonian Institution, Washington, London 1993, S.1
19 ebd. S. 4
20 WRIGHT, Rita P.: Technological Styles: Transforming a Natural Material into a Cultural Object, in: LUBAR, Steven/KINGERY, W.David (Hg.): History from Things. Essays on Material Culture, Smithonian Institution, Washington, London 1993, S.. 242-269
21 Vgl. hierzu die Unterscheidung von "gebrauchtem" Gegenstand und "Gebrauchsgegenstand" bei LANGEVELD, Martinus, J.: Das Ding in der Welt des Kindes, in: ders.: Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen 1956, S. 93
22 HEGEL, G.W.F.: Wissenschaft der Logik II, Werkausgabe, Bd.6, Frankfurt a. M. 1969, S. 453
23 NOVALIS, Briefe und Werke 3. Bd. Die Fragmente, Hg. V. Ewald WASMUTH, Berlin 1943, Nr. 1810
24 Vgl. MARX: "Aber es ist nicht nur der Gegenstand, den die Produktion der Konsumtion schafft. Sie gibt auch der Konsumtion ihre Bestimmtheit, ihren Charakter. Die Produktion schafft also den Konsumenten" (MARX,K.: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 623f.)
25 NOVALIS, Briefe und Werke 3. Bd. Die Fragmente, Hg. V. Ewald WASMUTH, Berlin 1943, Nr. 810
26 JONES, Michael Owen: Why take a behavioral approach to Folk Objects?, in: in: LUBAR, Steven/KINGERY, W.David (Hg.): History from Things. Essays on Material Culture, Smithonian Institution, Washington, London 1993, S.182-196
27 WITTGENSTEIN, L.: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1977, §199, S.127
28 LANGEVELD, Martinus, J.: Das Ding in der Welt des Kindes, in: ders.: Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen 1956, S. 97
29 APPADURAI, Arjin: Commodities and the politics of value, In: ders.: The social life of things, Cambridge University Press 1986
30 Vgl. auch DAVIS, Natalie Zemon: Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002; Davis' Studie zeigt, dass in der Schenk-Kultur des 16. Jahrhunderts schon sämtliche Spielarten dieses kommunikativen Gebrauchs der Gegenstände - vom selbstlosen Schenken bis zu korrumpierenden Gaben - vorhanden waren. Auch damals schon seien die Kehrseiten des Schenkens beklagt worden: nämlich die damit einhergehenden Auflagen. Davis beschreibt ein regelrechtes System gegenseitiger Verpflichtung, das durch Gaben und Gegengaben das soziale und politische Leben regelte. Selbst der aufkommende Calvinismus und Absolutismus sind danach als Reaktion auf eine überhand genommene Geschenkepraxis zu verstehen.
31 LANGEVELD, Martinus, J.: Das Ding in der Welt des Kindes, in: ders.: Studien zur Anthropologie des Kindes, Tübingen 1956, S. 97