Wie jedes reale Museum so steht auch das Pädagogische Museum im Netz "Orbis digitalis" vor einer doppelten Aufgabe: Es muß Objekte auswählen und es muß Objekte zeigen. Selektion und Präsentation, an diesen Grundoperationen jeder musealen Arbeit führt auch in einem virtuellen Museum kein Weg vorbei. Die Kriterien, die die Selektion und Präsentation der Exponate leiten, der Selektions- und Präsentationscode, haben direkte Auswirkungen auf alle weiteren musealen Entscheidungen und Strategien, auf die Sammlungspolitik auf die Form der Archivierung, auf die Öffentlichkeitsarbeit und vieles andere mehr. Deshalb ist die Entfaltung und Begründung der Selektions- und Präsentationskriterien der Kernpunkt eines jeden musealen Konzepts.
In den realen Museen sind die Selektions- und Präsentationskriterien durch die Art und den Wert der schon vorhandenen Sammlungsstücke weitgehend determiniert. Die Anschaffung neuer Stücke wird bestimmt durch die Absicht die Sammlung zu ergänzen oder gar zu vervollständigen und die Präsentation steht unter der naheliegenden Maxime, die wichtigsten wertvollsten Stücke auch gebührend in Szene zu setzen. Aus diesem Grund ist die Konzeptentwicklung in einem bestehenden Museum relativ einfach: Sie hat die Form einer wie auch immer akzentuierenden "Fortschreibung" der bisherigen Sammlungs- und Ausstellungstradition.
Ganz anders sieht es aus im Falle des Pädagogischen Museums im Netz "Orbis digitalis". Es existiert weder eine Sammlungs- noch eine Ausstellungstradition, die man bloß fortschreiben oder sonst wie modernisieren braucht. Das Pädagogische Museum im Netz besitzt nichts, auf das es zurückgreifen könnte, nicht einmal einen Raum. Es muß beim Nullpunkt anfangen und alle mit dem Aufbau eines Museums zusammenhängenden Fragen, grundsätzlich und von Anfang an durchdenken. Streng genommen heißt das nicht mehr und nicht weniger als die für jedes Museum unverzichtbaren Selektions- wie die Präsentationskriterien in einem Meer von fast unendlichen Möglichkeiten neu zu finden und zu begründen. Das ist eine Chance, aber auch eine schwierige Herausforderung. Sie wird sich nur meistern lassen, wenn wir lernbereit sind und unterwegs die Orientierung nicht verlieren. Dieser Orientierung dient das vorliegende Papier. Es ist noch kein Konzept, sondern eine Landkarte. Es beschreibt das Gelände, in dem wir uns orientieren sollten und die möglichen Pfade, die wir auf der Suche nach dem Konzept verfolgen können.
Auch wenn demnach bislang noch keiner den genauen Weg kennt, der zu einem Konzept für das geplante Museum führt, drei Essentiales liegen immerhin fest. Sie begrenzen das Operationsfeld und sind insofern die einzigen Fixpunkte in der Suchbewegung. Diese Essentials oder Fixpunkte lassen sich folgendermaßen formulieren:
1. Die Konzeptentwicklung muß in allen Phasen dem Umstand Rechnung tragen, daß es sich bei dem geplanten Museum um ein pädagogisches Museum handelt. Es muß immer erkennbar sein, worin sich dieses pädagogische Museum inhaltlich bzw. thematisch von anderen Bereichsmuseen unterscheidet oder unterscheiden soll.
2. Die Konzeptentwicklung muß in allen Phasen dem Umstand Rechnung tragen, daß es sich bei dem geplanten Museum um ein virtuelles Museum handelt. Es muß immer erkennbar sein, worin die Besonderheiten, die Vor- und Nachteile der Virtualität liegen.
3. Die Konzeptentwicklung muß in allen Phasen dem Umstand Rechnung tragen, daß es sich bei dem geplanten Museum um ein universitäres Ausbildungsprojekt handelt. Es muß deshalb sichergestellt sein, daß sich interessierte Studentinnen und Studenten der Erziehungswissenschaft von Anfang an der Planung und Realisierung des Museums beteiligen können.
Pädagogisches Museum
Was die Sammlung eines pädagogischen Museums von den Sammlungen anderer Museen unterscheidet, ist gar nicht so leicht zu sagen, zumindest kann man darüber trefflich streiten. Zwischen einer Position, die alles, was irgendwie auch nur von ferne mit der Tatsache des Heranwachsens und der Generationenbeziehung in Verbindung gebracht werden kann das ist bekanntlich ziemlich viel - in die Sammlung eines pädagogischen Museums aufnehmen will und einer Position, die für eine strenge Beschränkung plädiert, sei es auf die formalisierten Instrumentarien des schulischen Lernens wie in einem Schulmuseum, sei es auf die alltäglichen und nicht alltäglichen Spielgeräte der Kinder wie im Spielzeugmuseum, gibt es eine Menge von Zwischenstufen, die sich alle auf beachtenswerte Argumenten berufen können. Wir werden zunächst jedoch auf diese Argumente nicht zurückgreifen. Was im Orbis digitalis einmal gesammelt und zu sehen sein wird, soll vorläufig offen bleiben. Dennoch ist nicht alles möglich. Entscheidend für Aufnahme in die Sammlung und Präsentation des pädagogischen Museum ist die Bildungsbedeutsamkeit eines Gegenstandes. Um in die Sammlung des Orbis digitalis aufgenommen zu werden, muß ein Gegenstand die Gelegenheit bieten, an ihm eine Bildungsbewegung zu thematisieren. Nur, was thematisiert man, wenn man Bildungsbewegungen thematisiert?
Bildungsbewegungen sind keine Reifungsprozesse. Sie entfalten sich nicht nach einem endogenen Programm, wie die Pflanze aus dem Keim, um dann nach einer kontinuierlichen Entwicklung in der Blüte zu ihrem vorbestimmten Zielpunkt zu gelangen. Bildungsbewegungen erschöpfen sich auch nicht in der akkumulierenden Anhäufung von Sinnesdaten oder Wissensbeständen, die von außen mal mehr, mal weniger freundlich verabreicht werden. Bildungsbewegungen sind vielmehr reflexive Vorgänge. Sie resultieren aus der z.T. sehr mühevollen und immer konfliktreichen Auseinandersetzung der Heranwachsenden mit den kulturell überlieferten Bedingungen ihrer eignen Existenz, den materiellen Verhältnissen ebenso wie den tradierten Überzeugungen und lebensweltlichen Orientierungen. Bildung, das ist in Anlehnung an eine knappe, aber präzise Formulierung Sartres, die kleine reflexive Bewegung, in der die Menschen ihre gesellschaftliche "Konstitution", das Fremde an ihnen selbst, transzendieren und in einem Akt der "Personalisation" etwas aus dem machen, was man aus ihnen gemacht hat. Bildung in diesem Sinne ist immer Selbstbildung. Sie kann und soll keinem Heranwachsenden abgenommen werden. Schon gar nicht durch pädagogische Maßnahmen. Denn die Aufgabe der Pädagogik ist es ja gerade nicht, der nachwachsenden Generation die Anstrengung der Selbstbildung zu ersparen Im Gegenteil: Das handlungsleitende Regulativ aller modernen Pädagogik ist die
Aufforderung zur Selbsttätigkeit, d.h. zur Selbstbildung.
Dieses handlungsleitende Regulativ, die Aufforderung zur Selbstbildung, stürzt die Pädagogen in ein klassisches Dilemma, vielleicht sogar in eine ausweglose Situation, eine "Aporie", wie Mollenhauer in den "Vergessene Zusammenhängen" (1983, S.14) vermutet. Als Erwachsene sind die Pädagogen nämlich "nicht nur Geburtshelfer bei der Entwicklung des kindliche Geistes, sondern für das Kind auch mächtige Zensoren dessen, zu dem es sich bildet" (ebd. S.10). Kafkas Brief an seinen Vater und mit ihm die gesamte autobiographische Literatur der Neuzeit sind für Mollenhauer ein "Zeugnis dafür, daß wir unsere eigene Bildung den Erwachsenen nicht nur verdanken, sondern ihnen auch vorwerfen können" (ebd. S.10). Die Erwachsenen sind verantwortlich für die lebensweltliche Ordnung, die ökonomischen Verhältnisse, die gesellschaftlichen Zustände, die die Neuankömmlinge vorfinden. Sie entscheiden über die Gestalt der materiellen und geistigen Welt, die den Heranwachsenden als Stoff für ihre Selbstbildungsbewegung präsentiert wird. Dadurch und durch den Stil des persönlichen Umgangs mit der jungen Generation determinieren die Erwachsenen den Verlauf der möglichen Bildungsbewegungen. Sie legen fest und schränken ein. Kurz, sie fungieren als Zensoren gegenüber dem, was möglich wäre. Aber die Erwachsenen zensieren nicht nur, sie begleiten die junge Generation auch auf deren Weg in die vorgefundene Kultur und öffnen ihnen manche Chance. Sie pflegen und ernähren die Kleinen und stellen sie wieder auf die Beine, wenn sie umgefallen sind. Sie zeigen ihnen was zum Überleben wichtig ist und was nicht, was Freude macht und wovor man sich besser hüten soll. Anders gesagt: die Erwachsenen teilen den Heranwachsenden ihre Erfahrungen mit und helfen ihnen so bei dem schwierigen Prozeß der Selbstbildung. Erziehung wird unter diesen Voraussetzungen zu einer einzigen Gratwanderung. Sie droht jeden Augenblick abzustürzen in zwei einander entgegengesetzte Extreme: in zwanghafte Indoktrination einerseits oder in gleichgültiges "Laisser faire" andererseits. Wenn es zu diesen Extremfällen kommt, sind Bildungsbewegungen nicht mehr möglich. Im ersten Fall wird die notwendige Selbsttätigkeit der Heranwachsenden unterdrückt und im zweiten Fall wird ihnen die ebenso notwendige Auseinandersetzung mit der überlieferten Kultur erspart. Um diese beiden Gefahren, die Skylla des Zwangs und die Charybdis der Beliebigkeit, im Verhältnis zur jungen Generation zu vermeiden, muß der Erwachsene als Erzieher ein Verhalten an den Tag legen, das in einer traditionellen Terminologie als "pädagogischer Takt" beschrieben wird.
Dieser Ausdruck ist nicht sonderlich glücklich. Er wirkt überholt und lässt manche Missverständnisse zu. Doch im Kern bezeichnet er eine zentrale Voraussetzung des modernen Erziehungsprojektes: die verständnisvolle Selbstgrenzung der Macht des erwachsenen Erziehers gegenüber dem Kind. Für Litt ist der pädagogische Takt die praktische Konsequenz aus einem Berufsethos, das, wie er formuliert, "den Willen zur eigenen Durchsetzung ausschließt" (Litt 1949a, S. 72). Das ist der entscheidende Punkt. Weniger nennt ihn "das eigentliche Geheimnis der pädagogischen Arbeit" (Weniger 1961, S. 28). Durch den Verzicht auf den eigenen Durchsetzungswillen gewinnt der Erzieher erst die "eigentümliche Distanz zu seiner Sache und zu seinem Zögling" (Nohl 1957, S. 137), die Voraussetzung ist für das Gelingen der pädagogischen Interaktion. Die "eigentümliche Distanz", "deren feinster Ausdruck" der "pädagogische Takt" ist (Nohl 1957, S. 137), schafft den für das pädagogische Geschehen notwendigen Freiraum. Der Heranwachsende braucht ihn, um unter der drückenden Dominanz des Erwachsenen seine Selbsttätigkeit zu entfalten. Und der Erzieher braucht ihn zur Beobachtung und Selbstkontrolle. Man könnte auch sagen: Der "pädagogische Takt" macht die persönliche Beziehung zwischen Zögling und Erzieher zu einer Art Experimentierfeld, auf dem der eine ohne Gefahr das Potential seiner Autonomie erproben und der andere in aufmerksamer Selbstreflexion die Richtigkeit seiner Handlungen und die Gültigkeit seiner Wissensbestände testen und überprüfen kann.
Von der kritischen Selbstüberprüfung des Erziehers ist im Prinzip nichts ausgenommen. Sie gilt nicht nur dem eigenen pädagogischen Handeln und seiner sprachlichen und gegenständlichen Instrumentierung, sondern auch den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen dieses Handeln stattfindet. Der Pädagoge muß die gesamte kulturelle Lebenswelt und den darin eingelassenen Sozialisationsmodus vor dem Horizont der kindlichen Zukunft einer kritischen Betrachtung unterziehen. Er muß ständig unterscheiden zwischen dem, was an unserer gegenständlichen Kultur die Selbstbildungsprozesse der Heranwachsenden erschwert oder verhindert und dem, was sie fördert.
Genau darin sehen wir auch die Aufgabe des virtuellen pädagogischen Museums orbis digitalis. Es soll auf seine Weise die materiellen Gegenstände unsrer alltäglichen Lebensform im Hinblick auf ihre Bildungsverträglichkeit überprüfen und in der Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition die zukunftsfähigen und deshalb auch überlieferungswürdigen kulturellen Bestände ausfindig machen. Anders gesagt: das Programm des neuen pädagogischen Museums im Netz besteht in der Selektion und Präsentation all dessen, was an dem gegenständlichen Inventar unserer inzwischen globalisierten Kultur pädagogisch bedeutsam und pädagogisch überflüssig oder gar schädlich erscheint. Wir wollen in unserem virtuellen Museum den möglichen Bildungssinn der vergangenen und gegenwärtigen material culture in all ihren Ausprägungen - vom Nachttopf über den Kinderwagen bis zur Angelrute - sichtbar werden lassen. Kurz: das pädagogische Museum soll zeigen, wie die verschieden Gegenstände unserer Kultur den Prozeß beeinflussen, in dem wir werden, was wir sind. Welche Kompetenzen, welche Fähigkeiten werden durch den Gebrauch der Dinge geschult oder unterdrückt, welche Erwartungen werden geweckt oder verdrängt, welches Wissen vermittelt oder blockiert? Die Alltagsgegenstände sollen so dargestellt und beschrieben werden, daß ihre bildende und missbildenden Wirkung auf die Heranwachsenden für den Besucher des Museums in verschiedenen Dimensionen erkennbar und vielleicht sogar spürbar wird.
Virtuelles Museum
Die Sichtung und Darstellung des pädagogisch relevanten gegenständlichen Inventars unserer Kultur erfolgt in einem Medium, das es bis vor wenigen Jahren in dieser Form noch nicht gab, und dessen innere Gesetzmäßigkeiten wir natürlich kennen und berücksichtigen müssen: die virtuelle Welt des Internet. Es sind vor allem zwei Merkmale, die diese virtuelle Welt und damit auch das Virtuelle Museum kennzeichnen und von den realen Museen unterscheiden: Die Zweidimensionalität der Präsentation und die digitale Form der Speicherung
Was auch immer das virtuelle Museum präsentiert, es bleibt gefesselt in die Zweidimensionalität des Bildschirms und ist mithin in der traditionellen Sprache der Ausstellungsmacher Flachware. Man kann diesen Tatbestand im Vergleich mit dem herkömmlichen Museum als einen doppelten Verlust beschreiben: auf Seiten des Subjekts als Verlust an Sinnlichkeit und auf Seiten der Dinge als Verlust der Materialität. Der Besucher des virtuellen Museums ist in seinen sensomotorischen Aktivität extrem eingeschränkt. Er darf sich nicht körperlich bewegen und er kann sich auch keinen eigenen Betrachterstandpunkt wählen. Die Perspektive, unter der er die Exponate wahrnimmt, wird ihm vorgeschrieben. Er muß sich vor dem flachen Bildschirm immer dem Blickwinkel des Fotografen oder Designers anpassen. In manchen virtuellen Museen, beispielsweise im Musée d'Art Moderne im Centre Pompidou in Paris (http://www.cnac-gp.fr/musee/), wird zwar mit der Zoom-Funktionen dem Besucher die Möglichkeit gegeben, Nähe und Distanz zum Objekt selbst zu regulieren. Doch die Bewegung, die so entsteht, ist simuliert. Der Betrachter kann auch in diesem Fall den Voreinstellungen nicht entfliehen. Dieser Einschränkung der Sinnestätigkeit im virtuellen Museum korrespondiert das Verschwinden der Dinge. Durch die Nivellierung auf die Fläche des Bildschirms verlieren sie ihre Materialität, ihre Räumlichkeit und Größe. Sie verblassen zu bloßen Abbildern.
Man kann sagen: Auf Grund seiner unausweichlichen Flachheit fehlt dem virtuellen Museum die Grundvoraussetzung für die Präsentation von originalen, authentischen, einmaligen und greifbaren Objekten (Waidacher 1993, S. 291). Doch ist das wirklich etwas qualitativ völlig Neues? Hat nicht auch das traditionelle Museum schon z.T. an dieser Grundvoraussetzung gerüttelt? Hat nicht auch das traditionelle Museum die Dinge tendenziell schon ihrer Materialität beraubt und hinter Glasvitrinen gesteckt? Das klassische Museum war nie ein "hands on" Museum. Im Gegenteil. Die Dinge sollten nur betrachtet, aber nicht berührt und bearbeitet werden. Um die Kontemplation zu fördern, blieb auch im klassischen Museum die Sensomotorik immer eingeschränkt. Das Virtuelle Museum steigert nur diese schon immer vorhandene Tendenz. Insofern ist es vielleicht gar nicht so abwegig im virtuellen Museum, die Vollendung des traditionellen Museums zu sehen.
Während man im Hinblick auf das Merkmal der Zweidimensionalität und dessen Folgen noch unsicher sein kann über den Gewinn und den Verlust, der mit dem Übergang zum virituellen Museum verbunden ist, scheint der Fall dagegen im Hinblick auf das zweite Merkmal, die Digitalität, ziemlich eindeutig: Die Digitalität bedeutet gegenüber allen bisherigen Formen der Archivierung gleich einen mehrfachen Gewinn. Neben den günstigen Kosten - der digitale Speicherplatz ist wesentlich billiger als ein realer Archivraum gehen auch die folgenden Vorteile des Virtuellen Museums aufs Konto der Digitalität.
(1) unbegrenzte Speicherkapazität:
Die Digitalisierung, die die Sammlungsobjekte verflacht, macht sie zugleich von so gut wie allen räumlichen Vorgaben unabhängig. Das virtuelle Museum kennt keine Raumprobleme mehr, weder im Hinblick auf Größe noch im Hinblick auf die Form der Gegenstände. Das virtuelle Museum verfügt immer über ausreichende Ausstellungsräume und ausreichenden Speicherplatz. Platzmangel als möglicher Vorwand für Zensur fällt nun weg. Die Digitalisierung erlaubt beinahe unbegrenzt und billig jedes Objekt zu speichern. Sie lässt auf einmal das alte Ideal der Vollständigkeit in neuem Glanz erscheinen.
(2) vollständige Verknüpfbarkeit:
Die Digitalisierung ermöglicht nicht nur die faktisch unbegrenzte Speicherung, sie ermöglicht auch die unbegrenzte Verknüpfung der Sammlungsgegenstände. Durch ihre gemeinsame digitale Existenzform sind alle musealen Objekte - Texte, Bilder, Filme und Geräusche - untereinander anschlussfähig. Sie können alle ohne Aufwand und ohne Rest zu beliebigen Kombinationen verbunden werden. Das virtuelle Museum erlaubt so zum ersten Mal in der Geschichte die musealen Gegenstände ohne Rücksicht auf räumliche Grenzen und architektonische Vorgaben frei und unbegrenzt zu verkoppeln und zu arrangieren. Auf diese Weise kann das digitale Exponat auf einmal in Zusammenhängen erscheinen, die für das Original noch völlig unerreichbar waren.
(3) Hohe Aktualität:
Das Virtuelle Museum gehört weder zur Kategorie der temporären noch zur Kategorie der ständigen Ausstellungen. Es ist vielmehr beides: in ständiger Bewegung und doch dauerhaft. Das Virtuelle Museum läßt sich schnell umbauen und ausbauen, korrigieren und ergänzen. Obwohl es auf die Unterscheidung zwischen Depot und Schauräumen verzichtet, ist es dennoch zum ständigen "Szenenwechsel" in der Lage. Das erhöht seine Reaktionsgeschwindigkeit auf Veränderungen der Wissensbestände und damit seine Aktualität. Das Virtuelle Museum ist der Möglichkeit nach immer am Puls der Zeit. Pikanterweise geht bei allem Wechsel nichts verloren. Die hohe Speicherfähigkeit sorgt dafür, daß jede Phase in der Dynamik aufbewahrt und auf Dauer gestellt werden kann.
(4) prinzipielle Allgegenwart:
Die Digitalisierung macht es möglich, die Objekte des Virtuellen Museums nahezu in Echtzeit, jedenfalls in Windeseile, an alle Stellen des Globus zu schicken. Sie werden dadurch von ihrer Bindung an Ort und Zeit befreit und im Prinzip wenigstens für alle jederzeit zugänglich. Virtuelle Museen sind der Möglichkeit nach ubiquitäre, d.h. allgegenwärtige Museen. "The beauty of a virtual museum is its capacity to connect the visitor with valuable information across the entire globe." (McKenzie 1997). Natürlich stößt die prinzipielle Allgegenwart des virtuellen Museums, seine allseitige Zugänglichkeit in der Realität an ihre Grenzen. Die wichtigste unter diesen Grenzen ist die Sprache. Die "Weltsprache" Englisch verspricht natürlich einen höheren Verbreitungsgrad für das virtuelle Museum als Suhaheli etwa oder Deutsch.
(5) produktive Partizipation:
Das Virtuelle Museum erlaubt dem Besucher nicht nur eine hochgradig individualisierte Form der Betrachtung. Es erlaubt ihm nicht nur, wie in jedes herkömmliche Museum auch, seine speziellen Erkenntnisinteressen zu befriedigen oder auch nur einfach nach Lust und Laune herumzustöbern. Das virtuelle Museum gibt vielmehr darüber hinaus dem Besucher auch noch die Möglichkeit, in die museale Präsentation einzugreifen, sie korrigierend oder ergänzend zu verändern, und so am Aufbau des Museum und der Präsentation seiner Bestände produktiv mitzuwirken. Der terminus technicus für diesen Sachverhalt ist Interaktivität. Durch sie wird der Besucher zu einem produktiven Moment in der musealen Entwicklung. Die Interaktivität des virtuellen Museums lässt ihn im Extremfall, jenseits von Beschwerdekasten, Gästebuch und Chatroom, als Co-Kurator tätig werden.
Universitäres Ausbildungsprojekt
Die konzeptuelle Entwicklung und der reale Aufbau des virtuellen Museums Orbis digitalis finden statt im Rahmen des erziehungswissenschaftlichen Studiums an der Humbodt-Universität zu Berlin. Das pädagogische Museums im Netz ist deshalb im Kern ein universitäres Ausbildungsprojekt. Es gibt den Studentinnen und Studenten insbesondere des Schwerpunktes Museumspädagogik die Gelegenheit, die musealen Grundoperationen der Selektion und Präsentation in ihren wesentlichen Aspekten kennen zu lernen und entlastet vom unmittelbaren Handlungs- und kommerziellen Erfolgsdruck zu erproben. Das pädagogische Museum Orbis digitalis bietet den museumspädagogisch interessierten Studentinnen und Studenten der Erziehungswissenschaft ein virtuelles Praktikum, ein zweidimensionales Experimentierfeld, in dem alle museumspädagogisch relevanten Problemstellungen zur Sprache gebracht, wissenschaftlich diskutiert und einer neuen, kreativen Lösung entgegengeführt werden können. Das geht natürlich nicht ohne Risiko. Nicht alles gelingt auf Anhieb. Manches bleibt unfertig liegen, anderes erweist sich schnell als Missgriff oder Flop. Im einen Fall ist vielleicht der theoretische Anspruch weitreichend und gut begründet, aber die Realisierung auf dem Bildschirm wenig überzeugend, im anderen Fall dagegen ist vielleicht das Web-Design perfekt aber der bildungstheoretische Kommentar zu dürftig und inkonsistent. Mal sind die Fotos schlecht gewählt, mal sind die Metaphern schief. All dies und vieles mehr kann und wird passieren und den Eindruck eines glatten durchgestylten Hochglanzmuseums erst gar nicht aufkommen lassen. Das pädagogische Museum Orbis digitalis ist keine Kulturzitadelle für die Internettouristen, sondern eine Werkstatt. Hier wird gebastelt und geprobt, hier fliegen die Späne und rinnt der Schweiß. Wer sich für diese Arbeit in einem virtuellen museum in progress interessiert, ist herzlich eingeladen einmal vorbeizuschauen oder besser noch mitzumachen.
Der Aufbau des Museums geschieht experimentell. Es gibt keinen fertigen am grünen Tisch entwickelten Projektplan, der alle Einzelheiten des zukünftigen Museums schon vorwegnimmt und nur noch umgesetzt werden müsste. Unsere Vorgehensweise beim Aufbau des Museum folgt nicht der instrumentellen Logik der Planerfüllung. Weil wir nicht wissen wie das Museum einmal aussehen soll, kommen wir nicht umhin nach jedem Schritt innezuhalten, den Stand der Arbeit zu beurteilen und die Richtung in der es weitergehen soll, neu zu bestimmen. Man könnte sagen: das Verfahren, das wir bei der Verwirklichung unserer Museumsidee favorisieren ist das der permanenten Selbstkorrektur. Wir kommen voran, indem wir uns von dem jeweils erreichten Stand mit dem Rücken in die Zukunft wieder abstoßen. Die Aufbauarbeit beginnt mit kleinsten autonomen Sinneinheiten, die das pädagogische Museum kennt, mit den virtuellen Vitrinen. Für die formale Gestaltung dieser virtuellen Vitrinen gibt es zunächst keinerlei Regelungen. Alle technischen Möglichkeiten, die das Internet bietet, sollen ausgenutzt und erprobt werden. Auch inhaltlich gibt es zunächst bis auf die unverzichtbare pädagogische bzw. bildungstheoretische Grundthematik, keine Beschränkungen. In der formalen und inhaltlichen Ausgestaltung der kleinsten musealen Einheiten, hat jeder, der mitmacht, freie Hand. Es soll experimentiert werden. Jeder ist aufgefordert einen ausgearbeiteten Vorschlag zu unterbreiten. Ob er realisiert und ins Netz gestellt wird entscheidet, nach einer ausführlichen Diskussion in der Teilnehmergruppe, die Seminar- und Museumsleitung.
Literatur
LITT, Theodor: Die Bedeutung der pädagogischen Theorie für die Ausbildung des Lehrers, in: Litt, Theodor: Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems, 4.A., Stuttgart 1949b, S. 110 - 126
LITT, Theodor: Führen oder Wachsenlassen. Eine Erörterung des pädagogischen Grundproblems, 4.A., Stuttgart 1949a
MOLLENHAUER Klaus: Vergessene Zusammenhänge, München 1983
NOHL, Herman: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, 4.A. Frankfurt 1957
WAIDACHER, Friedrich: Handbuch der Allgemeinen Museologie. Wien / Köln / Weimar 1993
WENIGER, E.: Herman Nohl, Rede bei der akademischen Gedenkfeier für Professor Dr. phil.Dr.jur.hc Herman Nohl am 4. Febr. 1961. Göttinger Universitätsreden 32, Göttingen 1961
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