Kinderdoppelbildmis, um 1910
Kinderdoppelbildnis; Silbergelatineabzug, koloriert; Berlin um 1910 © mek.smb
Bildungsbürger/Bilderalltag

Neben der steten Verbesserung der Drucktechniken sorgten die gesellschaftlichen Veränderungen für eine fortschreitende Verbreitung von Bildern im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das Bürgertum hatte sich eine wirtschaftliche Grundlage geschaffen, ohne jedoch an der politischen Machtausübung beteiligt zu sein. Die Folge war ein Rückzug in das Private. Hier, im privaten Lebensraum der bürgerlichen Gesellschaft, erfüllten Bilder die Funktion eines Statussymbols und dienten der Ausgestaltung des zu dieser Zeit neu formulierten Bildungsbegriffes. Die Emanzipation des Bürgertums von kirchlicher Bevormundung hatte eine Abkehr vom theologischen Bildungsverständnis bewirkt. Aufklärungsphilosophen wie Gottfried Wilhelm von Leibniz, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt prägten den neuen Bildungsbegriff, der ab Mitte des 18. Jahrhunderts in der pädagogischen Fachsprache Verwendung findet. Der Auftrag an den Menschen, sich um die Entfaltung seiner Gottesebenbildlichkeit zu bemühen, wurde durch das auf eine Vollendung im Diesseits zielende Bildungsideal ersetzt. Unter Bildung verstand man nun die „allseitige und harmonische Entfaltung der individuellen Anlagen – von innen heraus und durch Aneignung der Welt – zu einem Ganzen und Eigentümlichen der Persönlichkeit“ (Groppe, 1997, S.52). Über die bloße Berufsbildung hinaus meinte dies einen lebenslangen Prozess der „Selbstkultivierung“. Bildung sollte regionale und konfessionelle Schranken überwinden, die ständische Gesellschaft aufheben und zur politischen Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft führen.
Im Zuge dieser Entwicklungen verwandelten sich die Kunstsammlungen der Adelshäuser und reicher Bürger zunehmend zu öffentlich zugänglichen Museen. Bilder wurden ein zentrales Medium der Verbreitung von Botschaften aus Politik, Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft.